Die deutsche Kulturlandschaft ist geprägt von einer institutionalisierten Infrastruktur. Zumindest hat es den Anschein, wenn man die wenigen kulturpolitischen Debatten in den Feuilletons verfolgt. Immer wieder gerne wird dort mit den Neu- und Umbauten von Theatern getitelt und es wird über Museen berichtet, die zunächst privat gestiftet und später im laufenden Betrieb kommunal finanziert werden. In der Tat ist es auch der Staat, der wie in den feudalen Zeiten auf Immobilien setzt, vor allem auf repräsentative wie das Humboldt-Forum als hauptstädtisches Flaggschiff, für das gleich ein ganzes Schloss aus dem Boden gestampft wird – oder war es umgekehrt? Aber auch die alternative Kultur weiß die normative Kraft des Faktischen zu nutzen. Die Soziokultur produziert von Anbeginn ihrer Erfindung programmatisch Projekte in alter Bausubstanz, sie besetzen Fabrikgebäude, ehemalige Schlachthöfe und andere Leerstände.
Aber wer macht sich eigentlich Gedanken um die Zukunftsfähigkeit all dieser Entwicklungen? Wer sorgt sich um die Nachhaltigkeit in der öffentlichen Kulturförderung? Wer hat hierzu strategische Überlegungen, Visionen, vor allem Konzeptionen? Christian Müller-Espey hat mit einer Untersuchung nachhaltiger Strukturen Soziokulturelle Zentren promoviert („Zukunftsfähigkeit gestalten“, Peter Lang Verlag, Berlin 2019) und über den Reformbedarf nachgedacht. Denn Gesellschaftspolitik und Nachhaltigkeitsdiskurse seien zwar schon theoretisch erörtert, aber eher kaum praktiziert, geschweige denn von den Trägern der Einrichtungen diesbezüglich kulturpolitisch gefordert. Das Desiderat wird wissenschaftlich belegt, die Perspektiven werden grundlegend formuliert. Kulturarbeit müsse in aller nächster Zeit ganz anders aussehen, besser noch: ausgerichtet sein. Neue Ziele, Kriterien und Methoden gelte es zu etablieren. Die Freiheit kultureller Ausdrucksformen sei im Sinne einer Zukunftsfähigkeit mit dem ökologischen Fußabdruck zu harmonisieren.
Entwicklung eines Nachhaltigkeitskodexes für Soziokulturelle Zentren
Auf der Basis der empirischen Ergebnisse entstand am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim ein Forschungsprojekt, das sich mit der Entwicklung eines Nachhaltigkeitskodexes für Soziokulturelle Zentren beschäftigt und Erkenntnisse aus der Praxis generiert, die den Ansprüchen der Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen ebenso entsprechen wie der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Es sollen branchenspezifischen Indikatoren entwickelt, Leitbilder zur Diskussion und Kulturschaffende zur Mitwirkung motiviert werden. Der „Rat für nachhaltigen Entwicklung“ fördert die zweijährige Studie, Soziokulturelle Zentren und ihr Bundesverband sind Partner des Projekts; denn sie könnten als Modell dienen, da sie schon immer nah dran waren an gesellschaftlichen Transformationsprozessen, mittendrin sind was die Selbstermächtigung von Menschen betrifft und den kulturpolitischen Auftrag wahrnehmen, Teilnahme und Teilhabe zu gewähren.
Das Forschungsdesign umfasst fünf Handlungsansätze, die mittels Workshops vor Ort, Seminaren mit Studierenden und Interviews mit Experten zu untersuchen sind. Zunächst gilt es die Prozesse nachhaltiger Entwicklung im Kulturbetrieb zu evaluieren und beratende Begleitung zu unterstützen. Die Beispiele guter Praxis entwickeln zudem durch kulturelle Bildungsangebote ein Programm zur Nachhaltigkeit, das auch bei den Zielgruppen für nachhaltige Verhaltensweisen sensibilisieren soll. Die statistische Berichterstattung wird um die Wirkungsfelder nachhaltigen Kulturmanagements erweitert, um durch Standardisierung den Stand der Entwicklung zu dokumentieren und zu forcieren. Ansinnen der Forschung ist auch eine Fortschreibung der Leitbilder durch die Sichtbarmachung nachhaltiger Entwicklungen und die Kommunikation des Wissenstransfers. Letztendlich geht es dann auch um die Bündelung der Erfahrungen, die Nutzbarmachung der qualitativen und quantitativen Empirie für das Netzwerk der Soziokulturellen Zentren, aber auch im besten Falle darüber hinaus für die gesamte Kulturlandschaft.
Auf den Spuren ressourcenschonender Verhaltensveränderungen
Die Ausgangsüberlegungen haben viel mit den aktuellen Aktivitäten der soziokulturellen Akteure zu tun, die sich seit geraumer Zeit um Fragen der Biogastronomie kümmern, über die Mobilität ihrer Teilnehmenden als Umweltfaktor nachdenken, Kriterien für weitere klimafreundliche Abläufe zum Beispiel auch in Beschaffung und Beschaffenheit von Materialien entwickeln sowie andere ressourcenschonende Verhaltensveränderungen anstreben. Fast ein Viertel der befragten Soziokultureller Zentren formulieren Reduktionsziele, von der Verringerung des Strom- und Energieverbrauchs, von der Nutzung energieeffizienter Lichttechnik, von der Reduzierung des Papierbedarfs, der Vermeidung von Plastikmüll und der Einsparung beim Heizen. Alle Zentren sind selbstverständlich an energetischen Sanierungen interessiert, die meisten sind damit permanent beschäftigt und viele in der ständigen Erwartung, dass sich dies in den kommunalen und Länderförderungen niederschlägt.
Für die Ausgestaltung eines branchenspezifischen Nachhaltigkeitskodexes für Soziokulturelle Zentren gibt es gute Gründe und sie sind nicht nur durch ein verändertes Verständnis im Ressourcenverbrauch ableitbar. In der Selbstdarstellung des Forschungsprojekts wird mit dem Titel „Jetzt in Zukunft“ geworben; denn es geht nicht nur um das Nachhaltige in der Soziokultur, es geht auch um die Perspektiven des Wirkens und für die Werke in der Kulturarbeit, um ein zukünftiges Verständnis, um eine gesellschaftliche Aufgabe, um eine notwendige Gestaltungskraft. Soziokulturelle Zentren sind in erste Linie keine Wirtschaftsbetriebe, auch wenn sie ein Großteil ihrer Einnahmen selbst akquirieren müssen. Aus ihrer Geschichte heraus waren sie vor allem Impulsgeber für Initiativen, die offensichtlich gefehlt haben, sie sind nach wie vor Seismografen für Fehlentwicklungen, die sich derzeit insbesondere in Intoleranz und Respektlosigkeit, Nationalismen und Rassismus ausdrücken, sie könnten wieder Agora sein für jene, die ansonsten nicht Gehör finden und kaum Zugänge zur Kulturlandschaft haben.
Der „Selbstversuch: Klimaneutrale Veranstaltungen in der soziokulturellen Praxis“, ein Projekt von „2N2K“, dem „Netzwerk Nachhaltigkeit in Kunst und Kultur“, gefördert vom Fonds Soziokultur, ist integraler Bestandteil der Hildesheimer Untersuchungen und zeigt, was im lokalen Kleinen für das große Ganze möglich ist. Das betrifft die CO2-Bilanz ebenso wie der nachhaltige Konsum aber auch das kreative Potential künstlerischer Interventionen. Auch im benachbarten Programm der Stiftung Niedersachsen zeigt sich, das mit „SozioK_Change“ den Generationenwechsel in Soziokulturellen Zentren befördert, beobachtet wie neue Publikumsschichten erschlossen und wie die veränderten Bedingungen in der ehrenamtlichen Arbeit berücksichtigt werden müssen. Offensichtlich geht es um mehr als Quantitäten, dieses Phänomen einer konzeptionellen Weiterentwicklung setzt auf Qualitäten. Eine weitere Grundlage der Forschung wurde im Rahmen eines sogenannten Salongesprächs der Darmstädter Schader-Stiftung geschaffen, bei der ein Branchenkodex für kleinere und mittlere Kultureinrichtungen Gegenstand der Erörterungen war, bei der die Einbindung in kommunale Strategien überlegt und konkretisiert wurde, auch dahingehend welcher bundesweiter Programme es bedürfe, um erfolgreich Nachhaltigkeit zu befördern.
Vorschläge für Korrekturen in der Kulturförderung
Die Infrastrukturen sind von gestern, die Kultureinrichtungen kämpfen heute um das Überleben, weshalb es Konzeptionen für morgen braucht, die Fragen der Ökologie nicht zur Funktionalisierung von Kulturarbeit degradieren, sondern existenzielle Themen in den Fokus nehmen und dafür Rahmenbedingungen entwickeln. Die Forschung wird deshalb mit Sicherheit auch Korrekturen in der Kulturförderung anmahnen, die Stärkung kultureller Bildung für nachhaltige Entwicklung als kultur- und bildungspolitischer Auftrag fordern und Kulturentwicklungsplanungen als Instrument mit nachhaltiger Wirkung plädieren.
Kristina Gruber, eine der beiden Projektleitenden, pointiert in einem internen Zwischenbericht den Anspruch des Forschungsprojekts: „Ein gemeinsames Nachhaltigkeitsverständnis für die Soziokultur bzw. für die gesamte Kulturlandschaft ist Grundlage für die Entwicklung gemeinsamer Werte und Schaffung nachhaltiger Strukturen.“ Und Davide Brocchi, der andere wissenschaftlich Verantwortliche, schreibt in einer „Zeitdiagnose“ auf der Online-Seite von „Spektrum der Wissenschaft“ am 4.4.2020 aus aktuellem Anlass: Die Corona-Krise „könnte durchaus eine Chance sein. Die Menschen erfahren gerade, was überflüssig ist, was überlebenswichtig. (…) Der Gesundheit der Menschen wird ein höherer Stellenwert beigemessen als dem Wirtschaftswachstum oder der „schwarzen Null“. Dies sollte auch für das Klima und die Erde gelten“ Die Ergebnisse aus der Nachhaltigkeits-Kulturforschung werden Ende des Jahres veröffentlicht, aller Voraussicht nach noch rechtzeitig um Zivilgesellschaft und Kulturpolitik bei Thematisierung, Orientierung und Qualifizierung auf nachhaltigeren Wegen zu begleiten.
Quelle: Kultur&Politik. Zeitschrift des Deutschen Kulturrats. Heft 5, Mai 2020.